Klare Grenzwerte sind nicht nur Hürden. Sie vermitteln auch eine gewisse Sicherheit. Unbewusst geht wohl jeder Mensch davon aus, dass „die“ sich dabei schon etwas gedacht haben werden, und die Bereitschaft, Grenzwerte zu hinterfragen, ist im Allgemeinen nicht besonders hoch. Selbstverständlich ist auch die Fünf-Prozent-Grenze für Fremdstoffe im Altpapier aus keiner Laune heraus entstanden. Dass sie so selten hinterfragt wird, ist allerdings erstaunlich.
Kunststoff kann beim Recycling von Papier tatsächlich ein Problem sein
Zunächst: Den Fremdstoffanteil beim Recycling von PPK-Fraktionen (Papier, Pappe, Karton) zu limitieren, ist nicht grundsätzlich falsch. Und das aus mehreren guten Gründen:
Recyclingqualität: Ein zu hoher Anteil an Fremdstoffen mindert die Qualität des Rezyklats und die Effizienz der Wiederverwertung.
Ökonomie: Weniger Fremdstoffe bedeuten auch einen geringeren Aufwand für ihre Entfernung. Das verringert die Kosten für die Abfallverwerter und führt bestenfalls sogar zu geringeren Entsorgungsgebühren.
Technologie: Zu viele Fremdstoffe und auch falsche Additive, Kleber, Beschichtungen können für Verschleiß an Pumpen, Sortieranlagen und anderer Infrastruktur im Recyclingprozess sorgen, im schlimmsten Fall können Verstopfungen ganze Anlagen stilllegen.
Ökologie: Je geringer der (sichtbare) Fremdstoffanteil ist, desto höher ist die Bereitschaft der Verbraucher:innen, PPK-Verpackungen in die blaue Tonne zu werfen. Und höhere Recyclingquoten helfen definitiv bei Klimaschutz und Ressourcenschonung.
Wo die Grenze für den erlaubten Fremdstoffanteil liegen sollte, ist allerdings nicht in Stein gemeißelt. So ist zumindest zu hoffen.
Die 5 %-Grenze basiert auf einer "Wunschliste" der internationalen Confederation of European Paper Industries (CEPI), die festlegt, wie ein Recycling von Faserstoffen zu bewerten ist, um ihre Recyclingfähigkeit zu belegen. Dazu gehört auch die Obergrenze von Fremdstoffen, die vor Jahren pauschal mit 5 % festgelegt wurde. Die Idee dahinter: je weniger Fremdstoffe, desto besser die Output-Qualität. Das bedeutet jedoch nicht, dass nicht auch bei höherem Fremdstoffanteil die Fasern sehr gut zu recyceln sind. So kann auch bei einem 80-20-Verhältnis mit einer dünnen Folie die Faser sehr gut recycelt – sprich: wiedergewonnen – werden. Andersrum kann ein 98-2-Verhältnis die Faser quasi nicht recycelbar machen, wenn die 2 % die Faserablösung im Wasser verhindern. Diese CEPI-Methode wird gerade aktualisiert und unterscheidet auch ganz logisch nach verschiedenen Arten und auch nach dem technologischen Stand unterschiedlicher Recyclingwerke. Denn nicht jeder Recycler nutzt die gleiche Technologie und kann somit auch nicht die gleichen Prozessschritte abbilden.
Das Recycling von Verpackungen hat auch psychologische Komponenten
An der Recycling-Technologie liegt es jedenfalls nicht, sagt Peter Désilets, der Geschäftsführer der auf nachhaltige Verpackungskonzepte spezialisierten Agentur Pacoon: “Die Technologie für Papierrecycling hat sich in den letzten Jahren weiterentwickelt, weil sich die Altpapierströme verändert haben. Viele neue Barrieren kommen auf den Markt, die teils sehr dünn sind, wasserlöslich oder andere Additive und Farben aufweisen.” Und sie alle haben unterschiedliche Auswirkungen auf die zurückgewonnene Faser: Während für Büropapier (grafische Papiere) die Reinheit sehr hoch sein soll, um keine Verfärbungen oder “Stippen” (Farbflecken) im Papier zu sehen, ist für Wellpappe der Qualitätsanspruch eher gering. “Daher ist es richtig, dass sich die Recyclingfähigkeit auch auf die vielen neuen Aspekte einstellt”, betont Désilets.
Tatsächlich, meint er, könnte ein höherer Anteil an Fremdstoffen paradoxerweise das Recycling der Fasern sogar befördern: Folien wären einfacher vom Papieranteil zu trennen, was es für die Recycler wiederum einfacher machte, entsprechend zu recyceln. Die aktuelle Regelung führe hingegen dazu, dass die Verpackungsingenieure beim geringsten Kunststoffanteil davon ausgingen, die Verpackung dürfe keinesfalls in der blauen Tonne landen, weil sie nicht recyclingfähig wäre. Daher werden solche Packungen gern gemieden. Genauso gibt die Deutsche Gesetzgebung über das Duale System vor, dass Faserverpackungen mit mehr als 5 % im “Gelben Sack” zu entsorgen sind – wo sie mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit verbrannt werden. Getränkekartons werden aufgrund ihrer großen Mengen und spezieller Recyclingverfahren separat aus den Leichtverpackungen sortiert und recycelt.
Webfehler im System? Recyclingfähigkeit wird nicht beachtet
Peter Désilets Schlussfolgerung: Die fünf Prozent seien per se völlig aussagelos und willkürlich, da sie nicht auf dem Aspekt der Recyclingfähigkeit beruhen, sondern einnahmenseitig argumentiert werden. Mit der Folge, dass Papier-Kunststoff-Verbunde im Dualen System Deutschlands kostenmäßig benachteiligt werden: „Das ist ein echter Webfehler im System. Verbunde mit einem höheren Anteil als fünf Prozent werden wie reine Kunststoffverpackungen berechnet. Die Entsorgung über den Altpapierkreislauf würde aber deutlich bessere Möglichkeiten des Recyclings bieten und auch eine viel höhere Sammelquote – da quasi jeder Haushalt eine Altpapiertonne zuhause hat. Das Duale System belohnt nicht die Recyclingfähigkeit, sondern ist damit beschäftigt, sich selbst zu finanzieren.“
Ein weiterer Grund, warum es sinnvoll wäre, Faserverbunde in Richtung des Papierrecyclings zu trimmen: Die entsprechende Sammelinfrastruktur ist sowohl in Deutschland als auch in vielen anderen Ländern in Europa deutlich besser ausgebaut als jene für Kunststoffe. Auch wenn die Recyclingtechnologien von Land zu Land abweichen: Die gängigsten Recyclinganlagen für Altpapier sind vorhanden, und die Tonnen auch.
Was ist recyclingfähig? Europäischer Flickenteppich beim Papier-Recycling
Ein Blick über die deutschen Landesgrenzen zeigt im Übrigen, dass die fünf Prozent alles andere als eine Naturkonstante sind. In Europa gelten sehr unterschiedliche Grenzwerte. In Österreich beispielsweise sind Verbunde mit bis zu 20 % Fremdstoffanteil als PPK-Fraktion akzeptiert und damit für das Papierrecycling freigegeben. In anderen Ländern liegen die Werte sogar noch höher, Frankreich geht sogar bis 49 %. Die technische Infrastruktur hat es in all diesen Ländern überlebt.
Neue Wege zum nachhaltigen Altpapier
Grenzwerte für den Fremdstoffanteil – egal, ob fünf Prozent oder mehr – haben zudem einen zentralen Nachteil: Sie berücksichtigen nicht, worum genau es sich bei diesen Stoffen eigentlich handelt, und sie erschweren damit zeitnahe und flexible Reaktionen auf technologische Entwicklungen. Und von denen gibt es eine ganze Menge.
Nicht jeder Fremdstoff ist „Plastik“, nicht jede Barriere ist recyclingschädlich. Längst gibt es umweltfreundliche Alternativen. Verpackungs- und Papier-Riese Sappi zum Beispiel hat eine neuartige Barrierebeschichtungs-Anlage in Betrieb genommen, auf der unterschiedliche Beschichtungstechnologien eingesetzt werden können. Hier sollen auch gemeinsam mit den Kunden neue Alternativen zu nicht recycelfähigen Verpackungen für den Markt entwickelt werden.
Auch Koehler Paper hat vor Jahren schon hunderte Millionen Euro in eine neue Papieranlage für beschichtete Papiere für Lebensmittelkontakt investiert. Die delfortgroup entwickelte viele neue Lösungen für Lebensmittelkontakt mit fossilen Barrieren, forscht aber auch stark an biobasierten Barrieren. Die Mindener Follmann Gruppe hat wasserbasierte Beschichtungen speziell für Verpackungen aus Papier und Pappe entwickelt, die eine Barriere gegen Öle, Fette und Wasser bilden. Die Barrieren sind bereits in recycelbaren Salatschüsseln im Einsatz.
Auch Fraunhofer nimmt sich der Thematik schon lange an. Das Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung hat zum Beispiel Nanotechnologien eingesetzt, um leistungsstarke und kostengünstige Barrierefolien mit niedrigem Carbon Footprint für flexible Verpackungen und Verkapselungen zu entwickeln, die auf nur einem Material basieren. Derzeit läuft ein Forschungsprojekt, das mit biobasierten Beschichtungen aus Kork von Eichen und Buchen – und damit soll eine besondere Lücke geschlossen werden: Während die verfügbaren biobasierten Lösungen etwa gegen Wasserdampf oder gegen Sauerstoff wirksam sind, soll ein neuer Biowerkstoff alle notwendigen Eigenschaften abdecken, die Lebensmittel-Verpackungen benötigen.
Auch gibt es schon Lösungen für Papier-Kaffeebecher, die sogar unter 5 % Barriere besitzen und über 90 % recyclingfähig sind. Dasselbe Material wäre auch für Lebensmittelverpackungen einsetzbar. Aber hier krankt das Sammelsystem in vielen Ländern Europas. Es finden sich nämlich viel zu wenig Papiertonnen im Öffentlichen Raum, daher landen die gut recycelfähigen Einwegbecher im Restmüll und somit in der Verbrennung. Ein gutes Beispiel ist hier Schweden, wo in Stockholm ganze “Batterien” von Sammeltonnen stehen: für Metalle, Alu, Glas, Papier, Kunststoffe und Restmüll. Die Kommunen haben somit auch einen Anteil daran, wenn in Deutschland die Circular Economy nur auf dem Papier gut dasteht, im täglichen Leben aber keine große Rolle spielt.
Die Deutsche Bahn spielt hier tatsächlich eine kleine Vorreiterrolle. In den Bahnhöfen und Zügen gibt es schon getrennte Sammeltonnen für Papier, Restmüll und “Verpackungen”. Trennen an der Quelle des Abfalls bietet hier mit einer kleinen Hürde schon die Basis, um mehr Verpackungen wieder in den Kreislauf zurückzuführen und Recycling zu fördern.
Welche Untergrenzen sinnvoll sind
Bis sich das mit Mehrwegbehältern und einem breitflächig etablierten Rückhol- und Reinigungssystem ändert, sollte mit einfachen Anpassungen die aktuelle Situation verbessert werden. Peter Désilets weist auch darauf hin: “Die PPWR, die Packaging and Packaging Waste Regulation, schreibt ab 2030 in den meisten Fällen eine Recyclingfähigkeit von 70 % bei faserbasierten Verpackungen vor. Ab 2038 erhöht sich das auf 80 %. Dies könnten auch die Untergrenzen sein, mit denen faserbasierte Verpackungen ihre Recyclingfähigkeit nachweisen müssten. Darunter wäre eine Vermarktung in der EU ab 2030 nicht mehr erlaubt.”
Recyceln, aber richtig: Spannende Diskussionen auf der Fachpack
Die Diskussion um die 95-5-Regel verstärkt sich inzwischen allerdings, und das, sagt Peter Désilets, sei genau das, “was wir ausdrücklich begrüßen und seit Jahren schon fordern. Dies würde auch dem Mythos entgegenwirken, dass Faserverpackungen mit mehr als 5 % oder mit Folie nicht recycelbar wären. Das Ziel muss eine geprüfte Recyclingfähigkeit sein, und das wird mit der PPWR ohnhin gefordert. Mit abnehmender Recyclingfähigkeit könnte auch die Eco Fee angepasst werden, um die Tendenz zu mehr Recyclingfasern zu forcieren.”
Ein Tool, welches das Duale System in Deutschland leider seit Jahrzehnten nicht in den Griff bekommt, weil es das System selbst noch verhindert. Dabei könnte auch hier ein Algorithmus helfen, schlechter recyclierbare Kunststoffe deutlich zu verteuern und bessere Verpackungen zu verbilligen. Aber das ist ein Thema für einen eigenen Blog. Hier hat der Altpapierstrom den Vorteil, dass die Sammlung durch die Kommunen gesteuert wird und diese eine Abgabe aus dem Dualen System erhalten. Eine hohe Recyclingfähigkeit bei über 70 % oder 80 % wäre schon Standard bei der Registrierung.
Auf der FACHPACK 2025 wird Pacoon wieder in Kooperation mit der Messe auf dem Pavillion der Alternativen Verpackungslösungen seine SOLPACK 6.0 abhalten. Auf der Bühne im Zentrum der Pavillion-Sonderfläche wird PSC an allen drei Tagen ein abwechslungsreiches Programm veranstalten mit den wichtigsten Trendthemen der Verpackungsbranche. Im Jahr 2024 haben über 2.000 Teilnehmer:innen den Vorträgen gelauscht. Auf dem Event werden auch faserbasierte Verpackungen mit neuen Lösungen und die Diskussion der 95-5-Regel aufgegriffen und vorgestellt.
“Es wird Zeit, dass wir ein paar alte Zöpfe abschneiden, wenn wir es mit der Circular Economy Ernst meinen. Dazu gehören das fehlende Eco-Fee-System für Kunststoffe und die 95-5-Regel bei Faserverpackungen” sagt Peter Désilets.