Die Kette ist lang, und jedes Kettenglied entscheidet über das Ganze: Die Lieferketten von Kunststoffverpackungen bieten zahlreiche Möglichkeiten, um verbessernd einzugreifen – und damit letztlich dem großen Ziel, der Kreislaufwirtschaft, näher zu kommen.
Künstliche Intelligenz findet hier eine ideale Spielwiese. Vor allem ihre herausragende Fähigkeit, Big Data zu bewältigen, an deren Mengen Menschen scheitern, macht sie zu einem Hoffnungsträger im Kunststoffrecycling.
Doch die Möglichkeiten, sagt Pacoon-Geschäftsführer Peter Désilets, sind noch lange nicht ausgereizt: “In vielen Produktionsbetrieben wird KI schon zur Maschinensteuerung eingesetzt, aber die Möglichkeiten der Nutzung ergeben sich über die komplette Supply Chain hinweg.”
Zwölf Punkte, an denen der KI-Hebel angesetzt werden kann.
1. Rohstoffe: Mit neuen Materialien in Richtung Kreislaufwirtschaft
Auch, wenn der Name anderes verheißt: Gnome ist ein Riese. Das KI-Tool von DeepMind identifizierte im vergangenen Jahr die Struktur von über zwei Millionen neuen Kristallen, von denen rund 380.000 im Labor hergestellt werden könnten und stabil sind. Ein Ziel ist laut DeepMind die Entdeckung von Materialien, die umweltfreundlichere Technologien ermöglichen. Gnome hat keine Kunststoffe entdeckt, doch die Aussage ist eindeutig: KI hat das Potenzial, Materialeigenschaften schon vor der Produktion zu erforschen und zu simulieren und damit die Materialentwicklung zu revolutionieren.
Zwei Jahre zuvor hatte das US-amerikanische Berkeley Lab für Aufsehen gesorgt. Die Forscher:innen hatten einen Kunststoff entwickelt, der zumindest theoretisch unendlich oft recycelt werden kann.
Parallel zur Forschung an Virgin-Material setzt Künstliche Intelligenz auch an den Rezyklaten selbst an. Vor allem das Förderprojekt mit den Innovationslaboren K3Icycling und KIOptiPack ist in diesem Bereich hoch aktiv. Ca. 40 Partner aus Forschung und Industrie (darunter auch Pacoon) haben sich zusammengeschlossen, um praxisreife, KI-gestützte Werkzeuge zu entwickeln, mit deren Hilfe Produktdesign und Produktion von Kunststoffverpackungen mit hohem Rezyklatanteil möglich sind. Da der Einsatz von Rezyklaten unter anderem durch schwankende Eigenschaften oder den Mangel an chemisch hochreinen Chargen erschwert wird, setzt KIOptiPack schon beim Produktdesign an. Darauf aufbauend, betrachtet die Forschung unterschiedliche, aber aufeinander aufbauende Prozesse von der Produktion über die Extrusion bis hin zur Formung. Außerdem werden Energie- und Nachhaltigkeitsaspekte mit erfasst und Verbraucherakzeptanz abgefragt.
2. Extrusion: KI steuert die Mischung
Auch im Bereich der Extrusion ist KIOptiPack nicht allein. Das Forschungsprojekt Digit Rubber des Deutschen Instituts für Kautschuktechnologie etwa setzt Artificial Intelligence in der Extrusion von Gummiprofilen ein. Die KI analysiert in Echtzeit die Daten der Kautschukmischung und greift bei Abweichungen von der Referenzmischung ein: Das System passt dann die Prozessparameter automatisch an, um die Mischung innerhalb der Bandbreite der Spezifikation zu halten. Gleichzeitig kontrolliert das Inspektionssystem iProfilControl von Pixargus mit KI-Unterstützung in Echtzeit die Extrudat-Oberflächen.
Mit Detact hat Symate eine KI entwickelt, die Produktions- und Qualitätsdaten aus laufenden Prozessen sammelt, analysiert und verarbeitet. Detact ist auch bereits in Extrusionsprozessen im Einsatz und macht sie deutlich besser steuerbar.
Auch das pacoon-Team hat sich mit den Möglichkeiten von KI-Einsatz befasst. Was erstaunt: Der Einsatz in der Maschinensteuerung und der Berechnung neuer Varianten kann schon vergleichsweise kurzfristig erfolgen. Nach wenigen Monaten kann so die Produktion optimiert werden. Angenehmer Nebeneffekt: Auch für die Herausforderung des Fachkräftemangels oder der Ausbildung werden neue Antworten möglich.
3. Funktionen: Neue Verpackungslösungen simulieren
KI hat auch Einfluss auf die funktionellen Details von Kunststoff-Verpackungen. Mit Hilfe der Software können etwa die Diffusionswerte von Barrieren simuliert werden. Ebenso kann man die Auswirkungen neuer Barriere-Kombinationen virtuell ermitteln oder die Barriere-Werte der Verpackungen auf verschiedene Anwendungen abstimmen.
So hat das Fraunhofer IVV schon vor Jahren eine App entwickelt, die ausgehend von den Materialien und Dicken errechnet, wie für verschiedene Lebensmittel die notwendige Haltbarkeit erreicht werden kann.
4. Compounding: Künstliche Intelligenz findet neue Rezepturen
Auch im Compunding spielt die KI ihre Fähigkeit aus, enorme Datenmengen zu verarbeiten. KI-Systeme können Compoundeuren dabei helfen, optimale Rezepturen für Kunststoffcompounds zu entwickeln, indem sie Millionen möglicher Formulierungen auswerten und die vielversprechendsten Kandidaten identifizieren, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die gewünschten Materialeigenschaften erreichen. Das bedeutet vor allem eines: Die Zahl der tatsächlich durchgeführten Experimente wird radikal reduziert. Die Modelle berücksichtigen dabei die gesamte Historie des Materials, inklusive der Inhaltsstoffe, Verarbeitungsschritte, Prozessparameter und Prüfergebnisse.
In diesem Bereich leisten KIOptiPack beziehungsweise das Schwesterprojekt K3I-Cycling wertvolle Beiträge: Mehrere auf KI spezialisierte Projekt-Mitglieder entwickeln gemeinsam Vorhersage-Modelle für die Compound-Zieleigenschaften und für die Folienextrusion. Konkret geht es unter anderem um die Erstellung digitaler Materialdatenblätter mit Eigenschaftsvorhersagen.
Künstliche Intelligenz arbeitet hier zudem an Themen, die nicht unbedingt naheliegend scheinen. Ein selbstlernendes System etwa ist in der Lage, den Geruch eines neuen Kunststoffs zu bewerten. Und das mit Erfolg: Die Abweichungen zwischen den maschinellen und den humansensorischen Noten sind zum Teil geringer als jene zwischen verschiedenen menschlichen Geruchs-Prüfern.
5. Produktion: Automatisierte Effizienzsteigerung
Der Beitrag von KI zur Produktion der Folien ist kein spezifischer: Produktions-Optimierung ist schon seit Jahren eine Kernkompetenz der Künstlichen Intelligenz, sie trägt unter anderem durch deutliche Reduktion der Fehler und durch nahezu lückenlose Qualitätskontrolle zur Effizienz des gesamten Prozesses bei.
6. Konstruktion: Die Optimierung der Verpackung
Die Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit eines Projektes sind zu Beginn eines Prozesses die größten. Rund 80 Prozent der Umweltauswirkungen von Produkten sind auf Entscheidungen zurückzuführen, die bereits in der Designphase gefallen sind. KI-gestütztes Verpackungsdesign hilft auf mehreren Ebenen, sich der optimalen Konstruktion anzunähern.
Die selbstlernenden Systeme schaffen Designs, die in Bezug auf Wanddicken, Struktur, Stabilität oder Materialeinsparung so optimiert sind, wie es weder menschliche Erfahrung noch die Finite-Elemente-Methode zustande bringen. Mittels KI kann man virtuell Stabilisatoren einbauen, Laminierung, Kleber und verschiedene Öffnungen testen – und natürlich auch das Overpacking deutlich reduzieren. Lösungen wie OptimAI, die Pacoon zusammen mit Partnern für Rigid Packaging einsetzt, machen durch KI-Assessments auch retrospektive Konstruktions-Optimierung möglich.
Selbst in der Marktbeobachtung und Trendanalyse sowie im Bereich der Consumer Insights öffnet die KI neue Möglichkeiten: Virtuelle Produkt-Tests ohne haptische Verpackungen sparen Zeit, Material und Energie.
7. Druck: KI optimiert den Auftrag
In Druck-Vorgängen sorgt die KI sowohl beim Barriere- als auch beim Farbauftrag für Optimierung. Schließlich sind Farben für die Rezyklatqualität ein wichtiger Faktor. Zusammen mit einer KI-basierten Recyclingfähigkeits-Bewertung können nun schon ausgehend vom Farbeinsatz, Druckmengen, Farbanzahl und Veredelung die Rezyklatqualität verbessert und miteinander verglichen werden. Auch in Bereichen des Lean Managements, wie es etwa der Verpackungsspezialist maag heute schon betreibt, können mit KI Druckaufträge besser koordiniert und die Prozesse dramatisch beschleunigt werden. Das führt zu weniger Ausschuss und kürzeren Lieferzeiten.
8. Logistik: KI-gesteuerte Prozesse
Dass die Logistik gleichzeitig einer der stärksten Treiber und einer der dankbarsten Abnehmer Künstlicher Intelligenz ist, zeigt auch in dieser spezifischen Supply Chain Wirkung. Das gesamte Arsenal kommt auch dem Kunststoff-Recycling zugute.
Die Software sorgt für optimierte Lagerhaltung und erleichtert die Just-in-Time-Lieferung. Sie entscheidet über eine möglichst optimierte Be- und Entladung der Fahrzeuge und revolutioniert die klassische Routenplanung. Auch die Einbindung neuer Geschäftsmodelle wie etwa Sharing-Plattformen für Lkw erleichtern sie. Das sind ausnahmslos Effekte, die direkt auf den ökologischen Fußabdruck einzahlen.
9. Logistik-Daten: Entscheidendes Wissen für alle
Hinzu kommt der vereinfachte Austausch von Logistik-Daten zwischen den Playern in der Supply Chain. KI erleichtert den automatisierten und zielgerichteten Austausch detaillierter Daten über Primärverpackung, Umverpackung und Ladungsträgern zwischen Hersteller, Verpacker, Logistiker und Empfänger. Schon im Vorhinein könnten Packungsgrößen bis hin zur Palettenauslastung in Sekundenschnelle berechnet werden und somit auch Kosteneinsparungen und CO2-Berechnungen quantifiziert werden.
10. Verarbeitung: Nachhaltig durch den Einsatz von KI
Für die Verarbeitung der Packmittel gilt ähnliches wie für ihre Produktion. Durch KI optimierte Eigenschaften und Maschineneinstellungen machen auch diesen Schritt effizienter und damit nachhaltiger. Veränderte Materialeigenschaften wie Siegeltemperaturen, Reiß- und Durchstoßfestigkeiten, Verhalten auf den Formschultern von Folien oder Papieren oder Geschwindigkeiten der Verarbeitung werden in Zukunft ‘mitgeliefert’ und Fehler oder Lernphasen in der Verarbeitung somit reduziert. Neue Siegeltechnologien wie von watttron erlauben heute schon hohe Energieeinsparungen und Materialreduktionen. Wenn man diese Bedingungen im Vorhinein schon mit berücksichtigt in der KI, können Materialien ganz andere Ergebnisse hervorbringen.
11. Kommunikation: Automatisierung der Rechtssicherheit
Neue und bestehende rechtliche Rahmenbedingungen erfordern ein hohes Maß an Kommunikation – vor allem, da sich die entsprechenden Gesetze und Normen häufig verändern. Ob eine Verpackung den rechtlichen Anforderungen entspricht, muss also immer wieder aufs Neue nachgewiesen werden. Künstliche Intelligenz erleichtert diese Kommunikation enorm: Die Daten werden je nach Anlass kompiliert und aufbereitet und können automatisiert an die entsprechenden Stellen weitergegeben werden. Gerade unter dem Gesichtspunkt einer Green Claim Directive, die bis März 2026 umzusetzen ist, können hieraus Daten abgeleitet werden, die in der Kommunikation oder in den Digitalen Produktpässen Berücksichtigung finden werden.
12. Spezifikation: Nachhaltig bis zum letzten Schritt
Und schließlich der letzte Schritt der Lieferkette, der zugleich der erste sein könnte: die Spezifikation. KI macht nicht nur die Archivierung bestehender beziehungsweise die Suche nach geeigneten neuen Lösungen einfacher. Die Systeme berücksichtigen auch spezifische Variationen je nach dem eingesetzten Rohstoff-Lieferanten und bewerten die Materialeigenschaften der einzelnen Folienschichten.
Die Pacoon-Vision
Und wie sieht das bei Pacoon aus? “Es gibt sehr einfache und schnelle KI-Tools zur Integration in den kompletten Supply Chain-Prozess. Wir selbst nutzen KI demnächst verstärkt für die Auswertung von Dokumenten. Auch hier wird viel Manpower reduziert und der Prozess beschleunigt. In der Produktion gibt es Tools, die sich schon zigfach zur Maschinensteuerung und Produktions-Optimierung bewährt haben und die in wenigen Monaten schon den positiven ROI erreichen.”
Doch man müsse behutsam vorgehen, sagt Peter Désilets: “Die Angst, dass man selbst dann überflüssig wird, ist nicht zu leugnen. Aber ich sehe da das Beispiel der Industrialisierung. Statt der befürchteten Arbeitsplatzverluste durch die Maschinenproduktion sind die Produktionskosten und Verkaufspreise so stark gesunken, dass deutlich mehr Ware produziert werden musste. Das Personal war weiterhin nötig, denn so wurden sie für die Maschinensteuerung eingesetzt”.
Désilets plädiert für eine realistische Chancen-Bewertung: “In Zeiten von Fachkräftemangel und günstigen Produktionskosten in Asien und der Türkei wird eine Verschlankung und Kosteneinsparung in der Lieferkette die Antwort liefern können. Stellen wir uns doch mal vor, dass schon beim Kundengespräch durch die Datenverknüpfung direkt über mögliche Lösungen und deren Auswirkungen über die komplette Supply Chain gesprochen werden kann, statt ‘nach Rücksprache mit der Technik’ eine der Standardlösungen gewählt wird. Das ist die Zukunft.”