Reuse vor Recycling – auf diese Kurzformel lässt sich die von der Europäischen Kommission neulich vorgeschlagene Änderung der Vorschriften über Verpackungsabfälle verdichten. Daran, dass dieser Zugang grundsätzlich sinnvoll ist, besteht zwar weitgehend Konsens, im Detail werden die Vorgaben, die die Kommission liefert, allerdings sehr unterschiedlich bewertet. Während manche Länder, darunter Deutschland, bereits jetzt entsprechende Regelungen wie die Novelle des Verpackungsgesetzes implementieren, sind anderenorts entsprechende Gesetzesinitiativen noch lange nicht so weit fortgeschritten.
Auch die europäischen Interessenverbände haben keine einheitliche Meinung über den Kommissionsvorschlag. Vielen NGOs und Umweltschutzorganisationen gehen die angekündigten Reuse-Quoten nicht weit genug, Vertreter der Verpackungsindustrie sehen sie hingegen als überzogen und kontraproduktiv an. „Reuse ist allgemein in der Abfallhierarchie nach Vermeidung ganz oben angesiedelt. Durch neue Reuse-Systeme wird ein Vielfaches an Verpackungen eingespart, aber die Systeme müssen neu aufgestellt oder in den meisten Ländern überhaupt erst etabliert werden”, so PACOON-Geschäftsführer Peter Désilets. Allerdings ist noch viel Informationsarbeit zu leiten: „Wenn wir mit Interessierten sprechen, denken die natürlich in erster Linie an die heutigen, fehlerbehafteten Pooling-Systeme und sofort fallen jedem viele Gründe ein, warum Reuse nicht funktionieren soll. Wenn wir ihnen dann erklären, wie das zukünftige Reuse aussehen wird, leuchtet es vielen ein und bietet enorme Potenziale – ein Mulit-Millarden-Markt entsteht hier gerade mit großen Einsparpotenzialen.”
Am Ziel vorbei?
Denn, so die Argumentation, für viele Verpackungen existiert derzeit gar keine Reuse-Infrastruktur. Wenn Unternehmen eine solche sehr schnell aufbauen müssen, werde das dazu führen, dass weniger Geld für Recyclingsysteme zur Verfügung steht.
„Unverhältnismäßig hohe Zielvorgaben würden zur Zerschlagung einer Reihe hocheffektiver, bestehender Recyclingsysteme führen“, moniert etwa die UNESDA, der in Brüssel ansässige Fachverband der europäischen Getränkeindustrie, in einer Stellungnahme.
Abseits von Glas- und PET-Verpackungen gibt es derzeit tatsächlich kaum Reuse-Systeme für Nahrungsmittel. Bei zu hohen Reuse-Vorgaben befürchtet die Branche daher, werde man auf viele ökologisch sinnvolle Materialen verzichten zu müssen, etwa Verpackungen aus nachwachsenden Rohstoffen. Diese können zwar sehr gut recycliert werden, lassen sich jedoch nur schwer für den Wiedergebrauch aufbereiten, vor allem dann, wenn sie mit Lebensmitteln in Kontakt kommen sollen.
Hygiene als Knackpunkt
„Die vorgeschlagenen Reuse-Zielvorgaben sind vor allem im berührungssensiblen Bereich, wo die Verpackung eine wesentliche Schutz- und Hygienefunktion erfüllt, besorgniserregend hoch“, urteilt dementsprechend Francesca Stevens von EUROPEN, der europäischen Organisation für Verpackung und Umwelt, einer Interessenvertretung der europäischen Verpackungsindustrie. Neben dem Nahrungsmittelsektor wäre ihrer Angaben nach auch die Pharma-Branche besonders hart betroffen.
Dass es für viele Verpackungen derzeit keine Infrastruktur gibt, um die geforderten Reuse- und Recyclingquoten zu erfüllen, gibt auch Dorota Napierska von der NGO Zero Waste zu. Sie fügt allerdings an: „Dennoch sind diese Quoten nötig. Ohne Sie ist die Gefahr viel zu groß, dass die Industrie nie beginnt, sichere und wiederverwertbare Verpackungen zu entwerfen, sondern einfach so weitermacht wie bisher.“ Außerdem seien die Vorgaben ohnehin schon gesenkt worden. PACOON-Geschäftsführer Peter Désilets beschäftigt sich seit langem mit Reuse-Konzepten für Verpackungen und meint: „Viele Befürchtungen basieren auf falschen Annahmen, die auf den heutigen Status Quo von Reuse-Verpackungen basieren. Ja, es muss viel investiert werden, aber will ich in ein Recycling-System investieren, das erwiesenermaßen nicht funktioniert und selbst mit neuen Recyclingtechnologien viele Probleme nur beschönigen wird? Oder in ein System, das eine dauerhafte Lösung in vielen Bereichen darstellt? Es wird Produkte geben, für die Reuse keinen Sinn macht, wie langlebige Produkte, die jahrelang auf Lager liegen, wie z.B. Elektrogeräte und Zubehör. Aber auch für berührungssensible Produkte gibt es schon seit langem bewährte Verpackungen. Es ist auch falsch, dass nur Reuse-Verpackungen lange Strecken zurücklegen. Die Transportwege von Einwegverpackungen nach dem Öffnen bis zum fertigen Rezyklat betragen mehrere hundert, bei Exporten auch tausende von Kilometern. Demgegenüber ist Reuse ja fast schon ein Nachbarschafts-Modell.” meint Peter Désilets.
Gesenkte Vorgaben
Was tatsächlich stimmt. Nach Kritik von Seiten der Verpackungswirtschaft ist zum Beispiel die Reusequote, die bis 2030 bei Heiß- und Kaltgetränken erreicht werden soll, von 30 auf 20% halbiert worden, ebenfalls halbiert wurden die Ziele bei Verpackungen für Fertiggerichte zum Mitnehmen, nämlich von 20 auf 10%.
Deutschland hat inzwischen bereits erste Schritte gesetzt, um diese Zahlen zu schaffen. Seit Jahresanfang sind viele Betriebe ab einer gewissen Größe, die Take-Away-Essen anbieten, verpflichtet, neben Kunststoff-basierten Einwegverpackungen zum gleichen Preis auch eine Mehrwegvariante anzubieten. Viele Kleinstunternehmen wie Imbisse und Kioske bleiben von dieser Pflicht allerdings ausgenommen.
Der Weg, den Europa zurücklegen muss, um zu der im Rahmen des New Green Deal formulierten zirkulären Wirtschaft zu gelangen, bleibt aber noch lang. Derzeit wird europaweit mehr als ein Drittel des Verpackungsabfalls keiner stofflichen Verwertung zugeführt, sondern landet auf Deponien, wird verbrannt oder illegal entsorgt. Die Pro-Kopf-Mengen steigen indessen massiv, inzwischen liegen sie bei rund 180 Kilogramm jährlich. Ohne Gegenmaßnahmen wird diese Zahl bis 2030 um rund 20% steigen, bei Verpackungsabfall aus Kunststoff ist sogar eine Verdopplung zu befürchten. Das erklärte Ziel der EU ist es allerdings, die Verpackungsabfälle um 15% pro Mitgliedstaat und Kopf zu senken.
Nicht harmonisiert
Auch wenn die EU versucht, den Verpackungssektor auch durch solche Gesetze innereuropäisch zu harmonisieren – das Bild, das sich in den verschiedenen Ländern bietet, ist alles andere als harmonisch. Schon alleine die Vorschriften zur Registrierung von Verpackungen, zu Labels, zum Reporting in den nationalen Abfallwirtschaftssystemen und etwaigen Sanktionen bei Verstößen gegen Kennzeichnungspflichten sind beinahe eine Wissenschaft für sich. Peter Désilets weiß das sehr genau, seine Agentur hat dieses Problem erkannt und prangert dieses Wirrwarr in den letzten Jahren wiederholt an. Daher haben sie ein Kompendium der Registrierungs- und Kennzeichnungsvorschriften für die europäischen Länder und die USA herausgebracht: „Wir haben gemeinsam mit Partnern monatelang recherchiert, um eine nutzwertige Übersicht zu erstellen. Herausgekommen sind 42 Seiten Zusammenfassung aller wesentlichen Vorschriften für 31 Länder“. Das Kompendium kann über der Website von PACOON in Deutsch oder Englisch gekauft werden. Doch Peter Désilets sieht die eigene Erfahrung mit der Arbeit an dem Kompendium auch als Auftrag an die Stakeholder im Verpackungssektor und die Gesetzgeber: „Es ist wenig förderlich, wenn jedes Land seine eigenen Labels kreiert, deren Nutzung dann teilweise unter den Ländern noch verboten wird. Als Designagentur von international vertriebenen Produkten sehen wir dadurch ein Chaos an Labels, das auch der Verbraucher nicht mehr durchblicken wird. Daher ist es dringend nötig, die Labels zu entschlacken und zu harmonisieren. Als Verpackungsdesigner wissen wir auch seit vielen Jahren, dass ein Label nur begrenzte Informationen kommunizieren kann. Hier werden auf kleinem Raum so viele Informationen gepackt, die dann auf der Packung ohnehin irgendwo auf der Rückseite Platz finden. Aber dann auch bitte kein irrsinniges Label wie bei Getränkebechern mit Kunststoff-Beschichtung, wo ein 4-farbiger Hinweis aufgedruckt werden muss, bei Plastikbechern dann aber eine kaum sichtbare Prägung ausreicht”. Désilets schlägt andere Lösungen vor: „Stattdessen sollte man lieber die Papierbecher getrennt sammeln und die Fasern recyceln, wie es bei Getränkekartons auch passiert. Aber es gibt auch schon längst Lösungen für Faserbehälter ohne Kunststoff für den To-go-Bereich, die relativ einfach recycelt werden könnten – wenn man sie richtig sammelt.”
Auf einen Blick
Novelle zur Verpackungsverordnung
Letztvertreiber von Einweg-Lebensmittelverpackungen aus Kunststoff sowie von Einweg-Getränkebechern sind verpflichtet, die in diesen Verpackungen angebotenen Waren auch in einer Mehrwegverpackung anzubieten. Ab 1.1.2023 gilt diese Pflicht auch für Fast-Food und Essen-to-go-Gastronomie.
Reuse-Quoten der EU-Kommission
Im November hat die EU-Kommission Reuse-Quoten für Verpackungen vorgeschlagen, die nun im Europäischen Parlament und im Europarat behandelt und zu Gesetzen gemacht werden sollen. Der Vorschlag sieht unter anderem vor:
- Bei Heiß- und Kaltgetränken eine Reuse-Quote von 20% bis 2030 und 80% bis 2040.
- Bei Take-Away-Gerichten eine Reuse-Quote von 10% bis 2030 und 40% bis 2040.
- E-Commerce Unternehmen müssen bis 2030 eine Reuse-Quote von 10% erreichen, bis 2030 von 50%.